
Die unterirdische Welt der Bäume ist weitgehend unerforscht, da sie für das menschliche Auge meist nicht sichtbar ist. Zudem ist sie schwierig zu untersuchen, ohne einem Baum zu schaden. Obwohl die Wurzeln von grosser Bedeutung für Ernährung, Wasseraufnahme und Verankerung der Bäume sind, basiert das wissenschaftliche Verständnis des hölzernen Wurzelwachstums bis jetzt mehrheitlich auf ungeprüften Annahmen.
Die Lehrbuchmeinung ist, dass das Wachstum von Laubbaumwurzeln in gemässigten Zonen dem saisonalen Wachstum des Baumstammes entspricht. Demnach stellen sowohl Stamm als auch Wurzeln im Herbst ihr Wachstum ein, da es dann zu kalt wird. Im Frühjahr, wenn die Wetterkonditionen wieder günstiger werden, soll das Wurzelwachstum wieder beginnen. Diese Annahme wurde jedoch nie gründlich geprüft. Eine neue Studie, welche von Wissenschaftlern der Universität Antwerpen in Zusammenarbeit mit europäischen Partnern durchgeführt wurde, stellt diese nun in Frage. Sie beweist, dass die Baumwurzeln in den kälteren Monaten weiterwachsen, auch wenn die Stämme ihr Wachstum bereits eingestellt haben.
Lorène Marchand von der Universität Antwerpen, Hauptautorin des Artikels , der im Fachjournal «Nature Ecology and Evolution» veröffentlicht wurde, erklärt: «Wir wollten die Annahme testen, auf der auch alle Forstmodelle beruhen, um Unsicherheiten und Fehler zu vermeiden. Dafür haben wir uns in » Die Forschenden sammelten zwei Jahre lang wöchentlich von August bis März Wurzelproben und Mikro-Kerne aus den Stämmen von ausgewachsenen Buchen und Birken in den Wäldern nahe Brasschaat im Norden Belgiens. Ausserdem führten sie ein Experiment mit jungen, in Töpfen gepflanzten Buchen, Birken, Eichen und Espen, welche circa einen Meter gross waren, durch. Die Topfbäume wuchsen an drei verschiedenen Standorten; in Brasschaat, in der Nähe von Barcelona (Spanien) sowie in Oslo (Norwegen). Als Ziel galt es herauszufinden ob die verschiedenen Standorte, die sowohl im Zentrum als auch an den Rändern der gemässigten Zone Europas liegen, zu unterschiedlichen Resultaten führen würden. Insgesamt wurden 330 Bäume untersucht und mehr als 1000 Wurzelproben entnommen.
Marchand erklärt die Beobachtungen: «Was wir entdeckten, überraschte uns. Das Holz im Stamm hört im Herbst, wenn die Blätter fallen, auf zu wachsen. Das Holz in den Wurzeln wächst den ganzen Winter über weiter und sogar bis ins nächste Frühjahr hinein, bis sich die ersten Blätter neu entfalten. Die neu entdeckte Tatsache, dass die Wurzeln auch im Winter weiterwachsen, widerlegt somit die Annahme, dass das Wurzelwachstum gleich wie das Stammwachstum funktioniert. Das Holzwachstum in den Wurzeln setzt sich sogar dann noch fort, wenn die Bodentemperatur nahe an den Nullpunkt sinkt, wie es in Norwegen der Fall war. Das Wachstumsverhalten in den Wurzeln hängt also nicht vom Standort ab, da wir bei jungen Bäumen, die im Herbst in Spanien, Belgien und Norwegen beprobt wurden, ähnliche Beobachtungen machten. Dies, obwohl die Temperaturen sehr unterschiedlich waren. Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Herbstund Winterwachstum in hölzernen Wurzeln, bei Konditionen ohne Bodenfrost, ein gemeinsames Merkmal der Bäume der gemässigten Zonen Westeuropas ist.»
Diese Entdeckung verändert das Verständnis darüber, wie Bäume wachsen und ihre Kohlenstoffreserven verwalten. Sie zeigt, dass holziges Gewebe selbst in gemässigten Klimazonen kontinuierlich wachsen kann und unterstreicht die aktive Rolle der Wälder während des Winters - insbesondere unterirdisch. Matteo Campioli (Universität Antwerpen) Studienleiter: «Unsere Ergebnisse haben erhebliche Auswirkungen auf Waldmodelle, die sich bisher auf veraltete Annahmen über Wurzelwachstum stützen, was zu Fehlern bei der Vorhersage der Kohlenstoffspeicherung und Wachstumsdynamik von Wäldern führen kann.»