Die Schrift der alten Maya bleibt geheimnisvoll. Von den rund 800 Hieroglyphen ist bis heute ein Fünftel nicht entschlüsselt. Ein Computerprogramm lässt nun rasche Fortschritte erwarten.
Gesprochenes verfliegt, Geschriebenes bleibt. Umso mehr, wenn es in Stein gemeisselt ist. Aber wenn Stein dem Zahn der Zeit auch lange zu widerstehen vermag, verblasst im Laufe der Jahrhunderte der Sinn. Doch manchmal wird durch die Launen der Geschichte eine Spur bewahrt, die zum Schlüsselfür die Entzifferung wird: wie der Stein von Rosetta, mit dem Champollion das Rätsel um die ägyptischen Hieroglyphen löste.
Auch die Maya der präkolumbischen Zeit verfügten über eine hieroglyphische Schrift. Ihre Schreiber verwendeten vielfältige Unterlagen: Stein, Keramik, Knochen und Papier. Papier wurde für umfangreiche Handschriften, die Codices, verwendet. Leider verbrannte 1562 Diego de Landa, Bischof von Yucatán, in seinem Eifer gegen den Götzendienst der indigenen Bevölkerung diese wertvollen Schriften fast vollständig. Ironie der Geschichte: Das von ihm verfasste Werk «Relación de las Cosas de Yucatán», in dem er die Maya-Schrift genau beschrieb, sollte sich als Stein von Rosetta erweisen, mit dem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entschlüsselung gelang.
Heute sind rund 80 Prozent der etwa 800 Glyphen (oder Hieroglyphen) der Maya-Schrift entschlüsselt. «Die verbleibenden 20 Prozent sind offensichtlich
die schwierigsten», folgert Carlos Pallan, Forscher am Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH) in Mexiko. Die Entschlüsselung der Maya-Schrift ist erfahrungsgemäss sehr aufwändig: Jede neu entdeckte Glyphe wird zuerst fotografiert. Ein Zeichner überträgt danach die Konturen sorgfältig. Aus diesen Zeichnungen, ergänzt durch Angaben zu ihrer Einordnung, entstehen dann gewaltige Kataloge. Auf der Suche nach Glyphen oder ähnlichen Elementen anderer Glyphen blättern die Archäologen diese Dokumente beharrlich durch – eine ungeheure Geduldsarbeit.
Daniel Gatica-Perez – ein am Forschungsinstitut Idiap in Martigny tätiger Wissenschaftler mit mexikanischen Wurzeln, der vom kulturellen Erbe seines Landes fasziniert ist – hatte deshalb die Idee, die Dokumente im grossen Massstab zu digitalisieren und elektronische Datenverarbeitungsmethoden zu nutzen. Aus seinen Kontakten mit Carlos Pallan entstand ein Projekt, das gemeinsam vom Schweizerischen Nationalfonds und vom INAH getragen wird. Ziel ist es, ein Werkzeug zur Bilderkennung zu entwickeln, mit dem sich die Zeichen einfacher identifizieren und vergleichen lassen. Neben Gatica-Perez und Pallan arbeiten auch Jean-Marc Odobez und Edgar Francisco Roman Rangel, beide vom Idiap, an diesem Projekt mit.
Logogramme und Silbenzeichen
Die erste Herausforderung bestand darin,eine gemeinsame Sprache zwischen Informatik und Archäologie zu finden und genau festzulegen, was die Archäologen wirklich brauchen. Die zweite Hürde lag beim Studienmaterial selber. Die präkolumbische Maya-Schrift ist komplex, da sie gleichzeitig Logogramme und Silbenzeichen verwendet. Sie besteht also aus Glyphen, die entweder ein Wort grafisch darstellen oder bestimmten Silben entsprechen. Mehrere Glyphen – manchmal aber auch nur eine – werden um die Hauptglyphe im Inneren eines quadratischen Glyphenblocks angeordnet. Gelesen wird in Reihen zu zwei Blöcken, von links nach rechts und von oben nach unten.
Zwar lassen sich die rund 800 Glyphen in Familien einordnen (Hände, Gottheiten oder Tiere beispielsweise), im Inneren der Blöcke sind die Kombinationsmöglichkeiten aber praktisch unbeschränkt. Das Ganze ist noch komplizierter: Ein Wort kann sowohl mit Silbenzeichen als auch mit einem Logogramm dargestellt werden. Ausserdem verwendeten die Schreiber manchmal aus künstlerischen Gründen oder einfach aus Platzmangel innerhalb eines Blocks oder am Ende eines Dokuments nur den Ausschnitt einer Glyphe.
Carlos Pallan veranschaulicht dies eindrücklich. In einer Auswahl von Glyphen aus der Familie «Hand» deutet er auf einebestimmte Glyphe und behauptet im Stil Magrittes: «Das ist keine Hand, sondern ein Fisch. Um den Fisch zu symbolisieren, hat der Schreiber ihn auf eine Flosse reduziert, die einer Hand gleicht.» Beträchtliche Unterschiede gibt es überdies je nach Region und Zeit. «Angesichts dieser Komplexität habe ich mich schon gefragt, obes überhaupt zwei gleiche Glyphen gibt»,gesteht Jean-Marc Odobez.
Suchmaschine für Hieroglyphen
Das am Idiap entwickelte Werkzeug hat mehrere Funktionen. Mit der ersten können zu einer Glyphe in einer Datenbank die ähnlichsten Glyphen heraus gesucht werden. Mit der zweiten Funktion lässt sich feststellen, in welchen Dokumenten und wo genau diese Glyphe erscheint. Die dritteFunktion dient der Zuweisung einer Glyphe zu einer thematischen Familie. Mit der letzten Funktion können Elemente gefunden werden, die sich innerhalb eines Dokuments wiederholen. Für Daniel Gatica-Perez ist das Tool jedoch kein direktes Übersetzungswerkzeug. «Es ist noch ungenau. Trotzdem können Forschende, die sich mit Glyphen befassen, damit eine Menge Zeit sparen. Wenn ein Student mit wenig Erfahrung eine Glyphe mit einem Katalog vergleichen möchte, muss er die Glyphen alle durchsehen. Unser System schlägt ihm eine Auswahl vor, die nach Ähnlichkeit geordnet ist.» Auch Carlos Pallan ist überzeugt: «Durch die Zeitersparnis lassen sich die Dokumente schneller durchsehen und besser nutzen.» Die ersten Arbeiten am Idiap zeigen, dass es möglich ist, ein System zu entwickeln. Durch das Entziffern der Maya-Dokumente lassen sich Einsichten über das gesellschaftliche Gefüge dieser Kultur gewinnen, deren Spuren durch Menschen und das tropische Klima weitgehend usgewischt wurden. Die Archäologen konnten schon viel über das Verhältnis der einzelnen Städte – Allianzen, Konflikte, Handelsbeziehungen – in Erfahrung bringen.
Diese Untersuchungen werfen ein interessantes Licht auf die herrschende Schicht, die das gemeine Volk mit der Religion lenkte. Gemäss Carlos Pallan
zeigen bestimmte Dokumente, dass sich die Elite in ihrer Schrift, die allein ihr zugänglich war, zuweilen sogar über die Götter mokierte. Dazu zeigt er eine zwei-
teilige Freske, die er schmunzelnd als Urahne des Comics bezeichnet. Darauf ist ein Kaninchen abgebildet, das einem Herrscher seine Machtsymbole stiehlt. Als sich dieser bei einem Gott darüber beschwert, schwört dieser scheinheilig, nichts damit zu tun zu haben. Wer jedoch die Freske genau betrachtet, entdeckt, dass das Kaninchen hinter dem schwindelnden Gott versteckt ist.
Das kulturelle Erbe des Landes gehört in Mexiko zu den wertvollsten Ressourcen für den Tourismus. Dieses Erbe zu studieren, zu verstehen und die Erkenntnisse weiterzugeben ist wahrscheinlich der beste Weg, es zu bewahren.
Die Maya
Die Maya-Zivilisation tauchte um 3000 v. Chr. auf und erlebte ihre Blütezeit zwischen dem 6. und dem 9. Jahrhundert n. Chr., dann folgte der Niedergang und mit der spanischen Kolonialisierung der Untergang. Die Maya-Zivilisation erstreckte sich über ein Gebiet, das die heutigen Länder Mexiko (Süden), Belize, Guatemala, Honduras und El Salvador umfasst. Das Volk der Maya existiert noch immer. Heute leben die etwa sechs Millionen Menschen noch im gleichen Gebiet, und sie sprechen weiterhin zahlreiche Maya-Sprachen.
Philippe Morel
Dieser Artikel ist im Schweizer Forschungsmagazin "Horizonte" (Nr. 84, März 2010) erschienen, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) herausgegeben wird. Sie können das Magazin gratis abonnieren.