Der Erfolg der Freikirchen

Der Erfolg der Freikirchen

In den Freikirchen versammeln sich jedes Wochenende doppelt so viele Gottesdienstbesucher wie in reformierten Kirchen und nur ein Viertel weniger als in katholischen Kirchen - obwohl offiziell nur zwei Prozent der Schweizerinnen und Schweizer einer Freikirche angehören. Zu diesem Schluss kommt eine neue Untersuchung.

Religionssoziologen haben erstmals gezählt, wie viele lokale religiöse Gemeinschaften aller Glaubensrichtungen in der Schweiz existieren - also alle Gruppen, die sich regelmässig an einem bestimmten Ort zu religiösen oder spirituellen Zwecken versammeln. Beispiele für solche Gemeinschaften sind die Pfarrei Saint-Nicolas-de-Flüe in Genf, die Moschee Errahmen in Biel, das Centro di Pratica Zen Sôtô in Lugano, die Israelitische Gemeinde Basel oder das Zentrum Eckankar in St. Gallen. Die Wissenschaftler durchforsteten Listen und Statistiken, befragten Experten und Kirchenvertreter - und kamen schliesslich auf 5734 Gemeinschaften. Die Forschenden führten Gespräche mit Verantwortlichen von 1040 Gemeinschaften.

Rund die Hälfte der Gemeinschaften gehört der römisch-katholischen (30,5 Prozent) oder der evangelisch-reformierten Kirche (19,1 Prozent) an. Deutlich mehr Gruppierungen als die Reformierten stellen aber die evangelischen Freikirchen mit 24,8 Prozent. Das erstaunt, da gemäss der Volkszählung vom Jahr 2000 nur etwa zwei Prozent der Schweizer Bevölkerung einer Freikirche angehören. Aber die kleinen Freikirchen haben fast nur bekennende und aktive Mitglieder.

690’000 Gottesdienstbesucherinnen und -besucher
Während die Mitgliederzahl einer durchschnittlichen Gemeinde der beiden offiziellen Landeskirchen bei etwa 1750 (römisch-katholisch) respektive 2200 (evangelisch-reformiert) liegt, gehören einer mittleren Freikirche gerade einmal 72 Menschen an. Doch diese gehen alle regelmässig zur Kirche: Bei der Befragung gaben die Verantwortlichen der freikirchlichen Gemeinschaften an, dass sogar mehr Gläubige als Mitglieder (Quote von 111 Prozent) am letzten Gottesdienst teilgenommen hätten. Bei den Katholiken lag die Teilnahmequote dagegen bei 4 Prozent, bei den Reformierten sogar nur bei 3 Prozent.
Aufgrund dieser Zahlen schätzen die Forschenden, dass sich an einem gewöhnlichen Wochenende in der Schweiz 690’000 Menschen (jeder elfte Einwohner) versammeln, um ein religiöses Ritual durchzuführen: 38 Prozent in katholischen Kirchen, 29 Prozent in evangelischen Freikirchen, 14 Prozent in reformierten Gotteshäusern und knapp 11 Prozent in muslimischen Gemeinschaften. «Jedes Wochenende stellen die Freikirchen also bloss etwa 25 Prozent weniger Gottesdienstbesucher als die katholische Kirche und sogar mehr als das Doppelte der reformierten Kirchgänger, obwohl die Katholiken 30 Mal und die Reformierten 24 Mal mehr offizielle Mitglieder aufweisen als die evangelischen Freikirchen», sagt Jörg Stolz, Forscher an der Universität Lausanne und Verantwortlicher der Studie.

Missionieren lohnt sich
Die Studie bestätigt, dass die etablierten Kirchen tendenziell kleiner werden. Bei den evangelischen Freikirchen gibt es klare Unterschiede: Während konservative Gemeinschaften (z.B. Brüderverein, Action Biblique) ebenfalls schrumpfen, bleiben klassische Gemeinschaften stabil (Chrischona, FEG). Charismatische Gemeinschaften dagegen wachsen deutlich (Pfingstgemeinden, ICF). Diese haben ein deutlich jüngeres Publikum als die Volkskirchen.
Die religiöse und moralische Striktheit der Freikirchen spielt entgegen bisheriger Vermutungen keine entscheidende Rolle bei ihrem Erfolg. Freikirchen sind zwar moralisch strikt, d.h. sie geben ihren Mitgliedern klare Verhaltensvorschriften, doch dies begründet ihren Erfolg nicht. Als wichtigen Grund für das Wachstum macht die Studie die aktive Suche nach neuen Mitgliedern aus. Fast alle Freikirchen ermutigen ihre Mitglieder, neue Personen einzuladen, und viele schalten Inserate in Zeitungen. Erhöht werden die Wachstumschancen laut der Studie auch, wenn eine Gemeinschaft Anstrengungen unternimmt, die Kinder der Angehörigen in ihrer religiösen Tradition aufzuziehen. Einige Glaubensrichtungen profitieren zudem von der Immigration. Das trifft auf die Muslime zu, aber auch auf die Lutheraner. Diese Gemeinschaft wächst vor allem wegen der Einwanderung aus Deutschland.