Frau Holl, können Sie uns einen Einblick in das Projekt Radiophonic Cultures geben? Um was ging es dabei?
Das ursprüngliche Projekt wurde in Zusammenarbeit mit der Basler Musikwissenschaft ins Leben gerufen. Die zentrale Frage war, wie sich Komponieren durch die Radioerfahrung verändert. Wir wollten wissen, wie das Radio den Klang der Musik beeinflusst, Hörräume verändert, neu konfiguriert, was Überhaupt als hörbar gilt, und welche sozialen und politischen Konsequenzen daraus erwachsen. Das Projekt war interdisziplinär und umfasste Expertinnen und Experten aus Musikwissenschaft, Medienwissenschaft und Radiokunst.
Was ist das Besondere an der Nutzung des Radios im Vergleich zu anderen Medien?
Bertolt Brecht wollte das Radio nicht nur als Distributions-, sondern auch als Kommunikationsapparat verstanden wissen. Wir haben hinzugefügt, dass es auch ein Produktionsapparat ist. Radio ist ein vielfältiges Ensemble, in dem viele Stimmen zusammenkommen.Komponisten wie Paul Hindemith, Walter Gronostay oder Kurt Weill haben das Radio als ein Medium gesehen, das experimentelle und kreative Möglichkeiten bietet, die weit über die reine Verbreitung von Musik hinausgehen. Sie haben das Radio selbst als Instrument verstanden. Für uns Musikund Medienwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler markierte das auch den Beginn einer Geschichte elektronischer Klangerzeugung.
Welche historische Entwicklung hat das Radio durchlaufen, und welche gesellschaftliche Bedeutung hat es heute?
Radio begann als unstrukturiertes Senden von Amateuren, wurde aber im Ersten Weltkrieg zum wichtigen militärischen Instrument. Weil es nach dem Krieg von verschiedenen aufständischen Bewegungen zur Organisation und Mobilisierung genutzt wurde, führten die meisten europäischen Länder den gesetzlichen Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Mediums ein: England vergibt Radiolizenzen 1922 an die BBC, die Schweiz schafft 1923 Telephonund Telegraphengesetz und Deutschland die Reichspost. Gegen die staatliche Verwaltung des Radios haben Komponistinnen und Künstler auch opponiert, mit neuen Formen der Kommunikation durch Klänge. Das dokumentieren wir in den zwei Bänden, die aus unserem Forschungsprojekt entstanden sind.
Sie erwähnten, dass das Radio auch eine kulturelle und ästhetische Dimension hat. Können Sie das näher erläutern?
Ja, da ist diese doppelte Struktur des Radios: Gerät und Gedanke, Kanal und Botschaft, Stimme und Rauschen, Geräusch und Stimme. In unserem Projekt haben wir untersucht, wie elektrische Geräusche, Pfeifen, Zischen und Rauschen in der Radiokomposition verwendet werden. Diese Geräusche verweisen auf die technische Infrastruktur und zeigen, dass das Radio nicht nur aus wohl temperierten Klängen besteht, sondern eine Vielzahl von Geräuschen und Tönen umfasst. Ein gutes Beispiel sind die Radiophonic Workshops der BBC, in denen Techniker, Komponisten und Journalisten zusammenarbeiteten, um innovative Radiokunst zu schaffen. In Radio-Studios wurden wahrscheinlich einige der wichtigsten Musikformen des 20. Jahrhunderts ausprobiert. Öffentlich-rechtliche Radiosender haben die Leute nicht nur mit Information, Kultur oder Unterhaltung versorgt, sie haben dafür gesorgt, dass im 20.Jahrhundert eine einzigartige Musikkultur entstanden ist.
Was unterscheidet das Radio von den digitalen Medien im Internet?
Radio erzeugt immer auch ein imaginäres Kollektiv, Gleichzeitigkeit und eine unmittelbare Intimität, eine physische Beteiligung, eine grosse Gemeinschaft. Letztere hat sich in der deutschen Geschichte auch als totalitär erwiesen.Digitale Medien wie zum Beispiel Podcasts sind dagegen individualisierter. Das analoge Radio erzeugt so eine idealisierte inkludierende öffentlichkeit, die digitalisierten Formen hingegen partikularisierte, ausschliessende Räume.
Welche Herausforderungen sehen Sie für das Radio in der heutigen Zeit?
Ich halte das Radio als Kommunikationsraum für eine funktionierende Gesellschaft für unablässig, gerade weil es in der Lage ist, unterschiedliche Stimmen, unterschiedliche Formen auch von Hören und Hörbarkeit und unterschiedliche Sprachen zu teilen. Gleichzeitig steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter finanziellem Druck, weil umstritten ist, ob öffentliche Gelder für Medien aufgewendet werden sollten, die nicht alle nutzen wollen. Eine funktionierende demokratische Gesellschaft braucht vielfältige Stimmen und Perspektiven. Radio macht diese hörbar. Inzwischen gibt es aber Konkurrenzmedien, der öffentliche Raum ist nicht mehr über Generationen und Kulturen hinweg verbindlich. Damit stellt sich erneut die Frage: Wie muss Radio gemacht werden, damit es von verschiedenen Menschen, zum Beispiel auch von unter 25-jährigen, gehört wird? Auch davon handeln unsere beiden Publikationen zur Radiophonie: wie lässt sich mit Radio über Grenzen hinweg kommunizieren?Das Radio als eine entscheidende Kommunikationsform des 20. Jahrhunderts durchläuft derzeit unter dem Stichwort ’Digitalisierung’ grundlegende Reorganisationsprozesse. Unter dem älteren Begriff der Radiophonie betrachtet, setzen diese Prozesse konzeptuelle Möglichkeiten frei, die weit über eine Ökonomisierung von Produktionsund Sendeformen hinausgehen. Radiophonie als Kulturtechnik integriert die Unterscheidung von musikalischem Klanggeschehen und von Effekten sowie Sounds zu einem neuen Konzept von Klangkunst.
Diesen Themen widmen sich zwei Buchbände: Band 1, Radiophonic Cultures (Texte), gibt den aktuellen Stand der Diskussion um Radiophonie, deren Geschichte und mögliche Zukunft, wieder. Band 2, Radiophonic Materials (Dokumente), versammelt entscheidende Texte aus der Geschichte der Radiophonie.