Eine Studie zwischen Kunst und Architektur erzählt die Schweizer Kolonialgeschichte neu

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Eine Studie zwischen Kunst und Architektur erzählt die Schweizer Kolonialgeschic
Eine von der EPFL und der HEAD-Genf durchgeführte Forschungsarbeit beleuchtet die Rolle der Schweizerischen Eidgenossenschaft bei der Schaffung einer in Brasilien ansässigen Kolonie. Die Forscherin, die auch Künstlerin ist, wird ihre Arbeit im September im Schweizerischen Nationalmuseum und im Centre d’art de Neuchâtel ausstellen.

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ließen sich zahlreiche Schweizer Familien aus der Bourgeoisie im Bundesstaat Bahia im Nordosten Brasiliens nieder. Auf Land, das der indigenen Bevölkerung gehörte, rodeten sie den Boden, beuteten das Land aus und bauten eines der größten Kaffeeplantagen-Konglomerate des Bundesstaates auf. Die landwirtschaftliche Arbeit wird von Männern, Frauen und Kindern verrichtet, die zwangsweise vom afrikanischen Kontinent transportiert und versklavt werden. Der Profit ist so groß, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1848 Vizekonsuln vor Ort ernennt, die selbst Sklavenhalter und Landbesitzer sind. Ihre Aufgabe ist es, die Plantage mit dem Namen "Colônia Leopoldina" zu verwalten.


Die Vizekonsuln schützten die Plantagen der Schweizer Familien bei Aufständen der versklavten Menschen, indem sie die diplomatischen Verbindungen zu den brasilianischen Behörden aktivierten. Sie führten auch ein Inventar der Besitztümer der Schweizer Familien, die bis zu 200 Personen repräsentierten und bis zu 2000 versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner besaßen. Diese sind im Inventar mit ihrem Namen, ihrem Alter und ihrem Gesundheitszustand aufgeführt. Die Vizekonsuln weisen ihnen außerdem einen Wert zu. Diese direkte Aktivität der jungen Eidgenossenschaft in einem kolonialen Kontext dauerte bis 1888, als die Sklaverei in Brasilien abgeschafft wurde.

In einem Ansatz, der Architekturgeschichte, visuelle Kultur und künstlerisches Schaffen miteinander verbindet, hat sich Denise Bertschi für die Spuren interessiert, die diese helvetische Präsenz hinterlassen hat. "Mein Ziel war es, die langfristigen Auswirkungen dieser kolonialen Episode aufzuzeigen, die die brasilianischen und schweizerischen Landschaften bis heute neu definiert hat", erläutert die Forscherin. Diese Doktorarbeit, die zwischen der EPFL und der HEAD-Genf durchgeführt wurde, ist eine Premiere für die beiden Institutionen. Ihre Öffentliche Verteidigung findet am 27. Juni an der EPFL statt. Als Künstlerin hat Denise Bertschi ihre wissenschaftliche Forschung durch die Einbeziehung von Kunstwerken ergänzt, die die Spuren der Kolonie offenbaren. Sie wird diese im September 2024 im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich und im Centre d’art de Neuchâtel ausstellen.

Das Unsichtbare sichtbar machen

Am Anfang dieser Forschung stand eine Frage: Wie kann man sich diesem unsichtbaren Teil der Schweizer Geschichte nähern, der oft als "Kolonialismus ohne Kolonien" bezeichnet wird? Wie kann man dieses Ereignis, das im Gegenteil die aktive Rolle der Eidgenossenschaft im Kolonialismus beweist, greifbar machen? 2017 reiste Denise Bertschi zweimal in das Dorf, das sich Helvécia nennt, um die Aussagen afro-brasilianischer Nachfahren zu sammeln. Sie findet sie noch immer von einer Erinnerung an die Gewalt verfolgt. Unter ihrer Führung filmt sie den Hafen, von dem aus die versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner an Land gingen, und ihren Friedhof mit seinen überwucherten, zerfallenen und unleserlichen Grabsteinen. Sie führen sie auch zu den Orten, an denen sich ihre Häuser befanden und an denen die versklavten Menschen geschlagen wurden. Orte, die heute zerstört und unsichtbar sind, und ein Boden, der mit Eukalyptuspflanzen bedeckt ist. Denn der Ort wurde in den 1940er Jahren von der Kaffeeproduktion auf die intensive Nutzung der Eukalyptuspflanze umgestellt. Heute ist es in den Händen eines multinationalen Unternehmens, das zum Großteil Mitglieder der Gemeinschaft ’Quilombo Helvécia’ beschäftigt, die Nachfahren der Menschen, die bei der Gründung der Kolonie versklavt wurden.


Beim Stöbern im Bundesarchiv stößt Denis Bertschi auf detaillierte Listen und Register der Kolonialverwaltung, die mit dem Stempel des Vizekonsulats der Schweizer Regierung versehen sind. Die Künstlerin lässt sich daraufhin von diesen Archiven inspirieren, um Kunstwerke zu schaffen. In diesem Fall beschloss sie, den Stempel der Kolonie und das Archiv des Vizekonsuls von der letzten Spitzenfabrik in St. Gallen besticken zu lassen, einem Überbleibsel eines blühenden Exportprodukts in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, das auch nach Brasilien exportiert wurde. Die Stickereien werden noch heute bei den Feiern des Candomblé, einem afro-brasilianischen religiösen Ritual, getragen und zeugen von dieser materiellen und wirtschaftlichen Geschichte. Dieses Objekt wird eines der Inventare, die vom Vizekonsul, der die Kolonie verwaltete, verfasst wurden, sichtbar machen, was unsichtbar geworden ist, und so die Schweizer Geschichte mit derjenigen Brasiliens verbinden.

Die Schweizer Landschaft neu lesen

Für ihre Doktorarbeit begab sich Denise Bertschi auch auf die Suche nach den Spuren der Colônia Leopoldina in der Schweizer Landschaft. Aus den Archiven des Bundes und des Kantons Neuenburg geht hervor, dass die Besitzer von Parzellen der Kolonie selbst den Titel "Konsuln" trugen, was den staatlichen Schutz belegt, den sie genossen. Einer von ihnen, James-Ferdinand de Pury, ließ mit dem durch die Kolonie erwirtschafteten Vermögen in Neuenburg die "Villa de Pury" errichten. Nach seinem Tod und auf seinen Wunsch wurde das Gebäude 1904 in ein Ethnografisches Museum umgewandelt, eine Funktion, die es bis heute innehat.

In den Dokumenten taucht auch der Name eines anderen Geschäftsmannes auf: Auguste-Frédéric de Meuron. Er war durch die auf Sklaverei basierenden Tabakplantagen in Bahia und Rio de Janeiro reich geworden und spielte eine wichtige Rolle als Bankier und Arrangeur für Schweizer Familien, die neue Plantagen anlegen wollten. Im Jahr 1849 wandelte er einen Teil seines Kolonialkapitals um, um die Klinik in Préfargier im Kanton Neuenburg zu bauen - eine zu ihrer Zeit hochmoderne psychiatrische Klinik, die diese Funktion auch heute noch erfüllt. "Dies sind nur zwei Beispiele", stellt Denise Bertschi klar. "Diese Fakten können unsere Perspektive auf die bauliche und institutionelle Umgebung der Schweiz verändern, insbesondere indem sie uns daran erinnern, woher das Kapital stammt, das in den Bau dieser Prestigebauten im Dienste des Staatsapparats investiert wurde."
  • Öffentliche Verteidigung am 27. Juni 2024, 18.00 Uhr, freier Eintritt, EPFL.
    Diese Doktorarbeit geht aus einer neuen akademischen Zusammenarbeit zwischen der EPFL und der HEAD-Genf hervor.

  • Denise Bertschi ist Finalistin der Swiss Art Awards; Ausstellung vom 10.6.-16.6.2024, Messehalle 1.1, Basel.

Referenzen


Denise Bertschi, "ECHOING SWISS COLONIALITY. Land, Archive and Visuality from Helvécia to Helvetia", Dissertation unter der gemeinsamen Leitung von Professor Nicola Braghieri, EPFL, und Professorin Doreen Mende, HEAD-Genf, 2024.