
Der vom Bundesrat verfügte «Lockdown light» führte dazu, dass eine Sars-CoV-2-infizierte Person im Schnitt statt vorher zwei bis drei derzeit nur noch eine Person ansteckt, wie Berechnungen eines Teams der ETH Zürich zeigen. Die Lage ist damit stabil, die Epidemie aber noch nicht eingedämmt.
Die Massnahmen des Bundesrats zur Eindämmung der Pandemie zeigen in der ganzen Schweiz Wirkung: Bevor am 13. März Schulschliessungen beschlossen und am 16. März die «ausserordentliche Lage» mit weiteren Social-Distancing-Massnahmen ausgerufen wurde, hat eine mit dem neuen Coronavirus infizierte Person im Durchschnitt zwei bis drei weitere angesteckt. Die Krankheitsfälle nahmen daher exponentiell zu. Seitdem die Massnahmen in Kraft sind, steckt eine Person im Schnitt nur noch eine weitere Person an. Dies zeigt eine Berechnung, welche ein Team unter der Leitung von Tanja Stadler, Professorin am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel, durchführte.
«Die Lage ist seit dem Ergreifen der Massnahmen stabil. Wir haben die Ausbreitung definitiv stark gebremst», sagt die ETH-Professorin. «Es stecken sich zwar immer noch täglich Personen mit dem Virus an, allerdings ist der Anstieg nicht mehr exponentiell, sondern linear.» Welche konkreten Bekämpfungsmassnahme welchen Anteil an der Stabilisierung der Lage hatten, lässt sich aus der Analyse nicht herauslesen.
Einheitliches Bild in der Schweiz
Die Anzahl Personen, welche eine infizierte Person ansteckt, wird in der Epidemiologie als Reproduktionszahl bezeichnet. Die ETH-Forschenden berechneten diese Zahl anhand der Sars-CoV-2-Neuansteckungen (Personen mit bestätigter Infektion), welche die Kantone täglich bekanntgeben. Neben einer schweizweiten Auswertung werteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für zehn der elf am stärksten von der Epidemie betroffenen Kantone die Daten auch auf Kantonsebene aus. Das Bild ist überall dasselbe: Mit dem Einsetzen der Massnahmen sank die Reproduktionszahl auf eins.
Jérémie Sciré, Doktorand in Stadlers Gruppe und Erstautor der Studie, weist darauf hin, dass die für die Berechnung verwendeten Neuansteckungszahlen fehlerbehaftet sein könnten. Dies, weil die Test-Kits und Wattestäbchen in der Schweiz knapp seien und es nicht ausgeschlossen sei, dass einzelne Abklärungszentren im Lauf der Epidemie zeitweise ausschliesslich die Risikopatienten und zeitweise auch weitere Personen auf den Erreger getestet haben. Eine solche Änderung der Testpraxis würde die Berechnung verfälschen.
Resultate sind aussagekräftig
Aus diesem Grund berechneten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Reproduktionszahl auf zwei weitere Arten, die weniger fehleranfällig sind. Für eine schweizweite Auswertung nutzten sie die gemeldeten Todesfälle, für eine Auswertung der Kantone Basel-Stadt und Baselland die Anzahl Spitaleintritte. «In der gegenwärtigen Situation, in der alle Corona-Patienten in der Region Basel ins Spital eingeliefert werden können, sind die Eintritte eine verlässliche Kenngrösse, es gibt dabei keine Dunkelziffer», erklärt Stadler. Auch sollten die gemeldeten Todesfälle eine verlässliche Kenngrösse sein.
Ein Vergleich der verschiedenen Berechnungsmethoden zeigte, dass sie alle ähnliche Ergebnisse liefern. «Daher können wir unseren Berechnungen auf Basis der Neuansteckungen trauen», sagt Stadler. Sie und ihre Kollegen, unter anderem von der ETH Zürich, der Universität Basel und dem Universitätsspital Basel, reichten die Studie zur Veröffentlichung auf dem Preprint-Server Medrxiv ein. Die Publikation wird in wenigen Tagen erwartet. Die Studie hat den wissenschaftlichen Begutachtungsprozess noch nicht durchlaufen.
Zu früh für eine Lockerung
Sind die Daten so ermutigend, dass an eine Lockerung der Social-Distancing-Massnahmen gedacht werden kann? «Dazu ist es zu früh», stellt Stadler klar. Dass die Lage derzeit stabil sei, sei zwar positiv, beispielsweise für die Spitäler und ihre Kapazitätsplanung. Solange die Lage so bleibe, wüssten die Spitäler, dass sie in Zukunft so viel Kapazität für Eintritte benötigen wie derzeit.
Eingedämmt ist die Epidemie damit allerdings nicht. «Würden wir die getroffenen Massnahmen bald aufheben, müssen wir damit rechnen, dass sich das Virus sofort wieder exponentiell verbreitet», sagt Stadler. Die derzeitigen Massnahmen aufheben und ersetzen, könne man erst, wenn der Höhepunkt der Epidemie deutlich überschritten sei. Ein Hinweis darauf würde eine Reproduktionszahl deutlich unter dem Wert eins liefern.
«Contact tracing» mit App erfolgsversprechend
Denkbar wäre dann, die heutigen einschneidenden Massnahmen zu ersetzten durch ein wirksames Nachverfolgen von Personen, die mit Infizierten in Kontakt standen («Contact tracing») und darauf basierend einer Isolierung sowohl von infizierten Personen als auch deren positiv getesteten Kontaktpersonen. «Damit das funktioniert, muss die Nachverfolgung sehr schnell sein. «Eine App mit SMS-Alarm, über die jetzt diskutiert wird, würde dies ermöglichen», sagt Stadler. Das Nachverfolgen und Isolieren wäre aber nur bei einer kleinen Zahl an Erkrankten erfolgsversprechend. «Würde man jetzt die bisherigen Massnahmen durch Contact Tracing und Isolation ersetzen, befürchte ich, dass viele von uns innert weniger Tage eine SMS erhalten werden, weil wir uns in der Nähe einer infizierten Person aufgehalten hatten.»