Wissenschaftler der EPFL haben eine Implantationstechnik entwickelt, die einen beispiellosen optischen Zugang zum "Rückenmark" der Essigfliege Drosophila melanogaster ermöglicht. Diese Arbeit könnte zu Fortschritten in den Bereichen Neurowissenschaften, künstliche Intelligenz und bio-inspirierte Robotik führen.
"Um die biologische Motorsteuerung zu verstehen, muss man die neuronale Aktivität von Tieren in Bewegung aufzeichnen können", erklärt Professor Pavan Ramdya von der Fakultät für Biowissenschaften der EPFL. "Im menschlichen Rückenmark gibt es eine Milliarde Neuronen, was gigantisch ist, und man kann die Neuronen von Menschen nicht auf die gleiche Weise manipulieren wie bei Tieren. Die Fruchtfliege oder Drosophila ist ein sehr kleiner Organismus, den man genetisch manipulieren kann und bei dem die Aktivität fast aller motorischen Schaltkreise durch bildgebende Verfahren beobachtet werden kann."
Seit Jahren konzentriert sich die Forschungsarbeit von Pavan Ramdya auf die numerische Zusammenfassung der Prinzipien, die der motorischen Kontrolle von Drosophila zugrunde liegen. Im Jahr 2019 veröffentlichte sein Team DeepFly3D , eine auf Bewegungserfassung basierende Deep-Learning-Software, die zahlreiche Kameraansichten nutzt, um die Bewegungen der Gliedmaßen von Fliegen in 3D zu quantifizieren. Im Jahr 2021 stellte Ramdyas Team LiftPose3D , eine Methode zur 3D-Rekonstruktion von Tierposen aus 2D-Bildern vor, die mit einer einzigen Kamera aufgenommen wurden. Diese Arbeiten wurden durch seine 2022 erfolgte Veröffentlichung von NeuroMechFly , einem ersten digitalen "Zwilling", der morphologisch der Drosophila ähnelt, vervollständigt.
Aber es gibt immer noch andere Herausforderungen, insbesondere in diesem Bereich, der an der Schnittstelle zwischen Biologie, Neurowissenschaften, Informatik und Robotik angesiedelt ist. Es geht nicht nur darum, das Nervensystem eines Organismus zu kartieren und zu verstehen - was an sich schon eine ehrgeizige Aufgabe ist -, sondern auch darum herauszufinden, wie man bio-inspirierte Roboter entwickelt, die so beweglich wie Fliegen sind.
"Das Hindernis, mit dem wir vor dieser Arbeit konfrontiert waren", so Pavan Ramdya, "war, dass wir die motorischen Schaltkreise der Fliege nur für eine kurze Zeit aufzeichnen konnten, bevor sich die Gesundheit des Insekts verschlechterte".
So schloss sich Pavan Ramdya mit Professor Selman Sakar von der Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Technik der EPFL zusammen, um Werkzeuge zu entwickeln, mit denen die neuronale Aktivität von Drosophila über längere Zeiträume, bis hin zum gesamten Leben des Insekts, überwacht werden kann. Das Projekt wurde von der Doktorandin Laura Hermans geleitet, die von Pavan Ramdya und Selman Sakar mitbetreut wurde.
Ein Fenster im ventralen Nervenstrang
"Wir haben mikrotechnische Vorrichtungen entwickelt, die einen optischen Zugang zum ventralen Nervenstrang des Tieres ermöglichen", erklärt Laura Hermans und verweist auf das Äquivalent des Rückenmarks bei Fliegen. "Dann haben wir diese Geräte operativ in den Brustkorb der Fliege implantiert", fährt sie fort. "Mit einem dieser Geräte, einem Implantat, können wir die Organe der Fliege so verschieben, dass der darunter liegende ventrale Nervenstrang sichtbar wird. Anschließend verschließen wir den Thorax mit einem transparenten mikrogefertigten Fenster. Sobald die Fliege mit diesen Vorrichtungen ausgestattet ist, können wir ihr Verhalten sowie ihre neuronale Aktivität in zahlreichen Experimenten über lange Zeiträume hinweg aufzeichnen."
All diese Werkzeuge ermöglichen es den Wissenschaftlern, ein Tier über lange Zeiträume zu beobachten. Sie können nun Experimente durchführen, die über einige Stunden hinausgehen und sogar während des gesamten Lebens der Fliege andauern. "Wir können zum Beispiel untersuchen, wie sich die Biologie eines Tieres während des Fortschreitens einer Krankheit anpasst", fügt Laura Hermans hinzu. "Wir können auch untersuchen, wie sich die Aktivität der neurologischen Schaltkreise und ihre Struktur während des Alterns verändern. Der ventrale Nervenstrang der Fliege ist perfekt, da er die motorischen Schaltkreise des Insekts beherbergt, so dass wir untersuchen können, wie sich die Fortbewegung im Laufe der Zeit oder nach einer Verletzung verändert."
Das Implantat
"Als Ingenieure begeistern wir uns für solche klar definierten technischen Herausforderungen", gesteht Selman Sakar. "Pavans Team hat eine Seziertechnik entwickelt, mit der die Organe der Fliegen, die das Sichtfeld blockieren, entfernt und der ventrale Nervenstrang sichtbar gemacht werden können. Die Fliegen können jedoch nur wenige Stunden nach der Operation überleben. Wir waren davon überzeugt, dass ein Implantat in den Brustkorb eingesetzt werden musste. Es gibt analoge Techniken, um das Nervensystem von größeren Tieren wie Ratten zu visualisieren. Wir ließen uns von diesen Lösungen inspirieren und begannen, über das Problem der Miniaturisierung nachzudenken."
Bei den ersten Prototypen bestand die Herausforderung darin, die Organe der Fliege so zu bewegen und zu erhalten, dass der ventrale Nervenstrang sichtbar wird, und es der Fliege gleichzeitig zu ermöglichen, nach der Operation zu überleben.
"Um diese Herausforderung zu meistern, brauchen Sie Leute, die ein Problem sowohl aus der Sicht der Biowissenschaften als auch aus der Sicht der Ingenieurwissenschaften betrachten können - dies unterstreicht die Bedeutung der Arbeit von Laura [Hermans] und Murat [Kaynak]", erklärt Selman Sakar.
Die ersten Implantate waren starr, und nur sehr wenige Fliegen überlebten nach der Operation. Die Überlebensrate zu verbessern, ohne die Bildqualität zu beeinträchtigen, war eine Herausforderung, die mehrere Designversuche erforderte. Das Ergebnis war ein einfacher, aber effektiver Prototyp: ein flexibles V-förmiges Implantat, das die Organe der Fliege sicher bewegen kann, den ventralen Nervenstrang sichtbar macht und es den Forschern ermöglicht, das Loch in der Kutikula mit einem "Barcode-Thoraxfenster" zu schließen.
"Aufgrund der anatomischen Unterschiede zwischen den Tieren mussten wir eine sichere und anpassungsfähige Lösung finden", sagt Selman Sakar. "Unser Implantat erfüllt diesen speziellen Bedarf. Zusammen mit der Entwicklung geeigneter Werkzeuge zur Mikromanipulation von Gewebe und einer weichen, 3D-gedruckten Nanoplatte, um die Tiere während wiederholter Bildgebungssitzungen zu fixieren, bieten wir einen umfassenden, vielseitigen Werkzeugkasten für die neurowissenschaftliche Forschung."
Ein offener Weg
Diese Entdeckung ist ein Beispiel für die offene und interdisziplinäre Forschung, die der EPFL eigen ist. "Seit jeher sind wir sehr offen für den Austausch von Technologie", erklärt Selman Sakar. "Die Idee hier ist, die Werkzeuge und Methoden schnell bekannt zu machen, so dass die zukünftige Entwicklung der Technologie und der Entdeckungsprozess, den sie in vielen Forschungsbereichen bieten, erleichtert werden. Ich denke, dass eine Reihe von Teams gerne unsere Technologie entdecken würde".
"Wenn man die Fliege studiert, denkt man, dass man, wenn man etwas relativ Einfaches verstehen kann, besser darauf vorbereitet sein kann, kompliziertere Organismen zu verstehen", sagt Pavan Ramdya. "Wenn man Mathematik lernt, vertieft man sich nicht in lineare Algebra, sondern lernt erst einmal, wie man addiert und subtrahiert. Und für die Robotik wäre es großartig, die Funktionsweise selbst eines einfachen Insekts zu verstehen."
Der nächste Schritt für das Team besteht darin, seine neue Methodik zu nutzen, um die Mechanismen der Bewegungskontrolle bei Drosophila zu entdecken. "Biologische Systeme sind im Vergleich zu künstlichen Systemen wirklich unglaublich, da sie z. B. die Erregbarkeit von Neuronen oder die Stärke von Synapsen dynamisch modulieren können", fügt Pavan Ramdya hinzu. "Um also zu verstehen, was biologische Systeme so agil macht, muss man diese Dynamik beobachten können. In unserem Fall würden wir gerne sehen, wie über die gesamte Lebensspanne eines Tieres die motorischen Systeme auf das Altern oder die Erholung von einer Verletzung reagieren."
ReferenzenLaura Hermans, Murat Kaynak, Jonas Braun, Victor Lobato-Ríos, Chin-Lin Chen, Adam Friedberg, Semih Günel, Florian Aymanns, Mahmut Selman Sakar, Pavan Ramdya. Microengineered devices enable long-term imaging of the ventral nerve cord in behaving adult Drosophila. Nature Communications, 25. August 2022. DOI: 10.1038/s41467’022 -32571-y.